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Aphorismus 1

 

Bodo Gaßmann

Über den Selbstmord

Aus Anlass des Selbstmordes von Fritz J. Raddatz

In den 70er Jahren hatte ich das Vergnügen, ein Seminar bei Raddatz in der Technischen Universität Hannover zu besuchen. Es ging um die „Arbeiter Illustrierten Zeitung“ in den 20er Jahren bis 1932. Ich war fasziniert von diesem Menschen, der in druckreifen Sätzen sprach und den Habitus eines homme de lettres demonstrativ zur Schau stellte, was auch auf eine gewisse „intellektuelle“ Eitelkeit schließen ließ. Dabei störte es mich wenig, als er mich pikiert zurechtwies, weil ich aus Mangel an Französisch-Kenntnissen den Autor André Gide falsch aussprach. Andererseits vermisste ich in seiner sprachlichen Eloquenz manchmal etwas Tiefe. Ähnlich geht es mir mit seiner Rechtfertigung des Selbstmordes.

Der Staat dürfe sich nicht anmaßen, Menschen den Freitod zu verbieten. Wir seien nicht Eigentum des Staates, es müsse jedem selbst überlassen sein, wann er sagt: Es ist genug. Nicht nur reiche Leute, die sich entsprechende Mittel zum Selbstmord beschaffen könnten und bei denen der Staat wegschaue, hätten ein Recht auf individuelle Entscheidung über den Tod, sondern das müsse allen zustehen. Schließlich sei die Schweiz auch kein Mörderstaat usw.
Doch so einfach ist es nicht. Was der Staat gesetzlich regelt und was nicht, ist eine Sache – die andere ist die heute so geschmähte Moral. Und deren Gründe für und wider den Freitod allein ist hier mein Thema.

Eine Moral muss heute allgemeine Geltung beanspruchen. Wir sind über den Weltmarkt, über das Klima, die Ausbeutung der Bodenschätze und den Kapitalismus mit seinen ihm immanenten Imperialismus und die Reaktion der Dummen darauf, den Terror, mit allen Völkern und Staaten auf der Erde verquickt, verschlungen, verbandelt. Eine ökonomische Entscheidung in China kann in Deutschland eine Krise auslösen, eine falsche Politik hier, dort zu verstärkter Repression führen, eine Unterlassung bei uns in anderen Ländern zur Hungerkatastrophe führen. Auch die bloß arbeiten, bloß ihre Arbeitskraft vermieten, können sich nicht einbilden, sie hätten mit diesen Zusammenhängen nichts zu tun. Sie erarbeiten den Reichtum, den ihre Regierung und die Konzerne weltweit als Macht einsetzen können.

Angesichts dieser Tatsachen kann es nur eine Moral geben, das ist die Vernunftmoral, die allein allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, weil die Vernunft das Denkvermögen zu allgemeinen Ideen ist. Sie liegt seit Kant vor:

„Behandle andere Menschen, wie dich selbst, niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst.“

Wer Selbstmord begeht, bei dem sagt sein rationales Ich, dein Körper, dein Bewusstsein, dein Geist, dein intelligibles Natursubstrat, dein Es und Über-Ich werde ich jetzt töten. Immer vorausgesetzt, es ist keine Kurzschlusshandlung, kein emotionaler Willkürakt oder ein schmerzbeladener unfreier Wille. Dann wäre die Selbsttötung eine Krankheit, kein freier Entschluss. Ist aber der freie Wille des rationalen Ichs wohlüberlegt, oder genauer: schlecht überlegt, dann ist es ein Mord an mir selbst, wie jeder andere Mord auch, selbst wenn der Staat einen missglückten Selbstmord nicht mit Gefängnis ahndet. Ein solcher Selbstmord ist unmoralisch. Wer sein Leben lang einigermaßen moralisch geblieben ist, andere nicht augebeutet, schikaniert, verachtet und in ihrer Würde verletzt hat, der geht mit dem Selbstmord einen großen Widerspruch ein, der sein Leben im Nachhinein als unmoralisch entwertet.

Vielleicht macht man sich den Selbstmord klar, indem man fragt, was Tod heißt. Nirgends wird so viel gelogen wie bei Beerdigungen, wo vom „ewigen Leben“, dem „Fortleben nach dem Tode“, gar vom „Paradies“ gefaselt wird. Wir, die wir aufgeklärt sind, glauben nicht mehr an die Kirchenmärchen der vergangenen Jahrtausende. Wen kann man heute noch mit dem Himmel locken und der Hölle drohen? Selbst diejenigen, die in solchen wilden Fantasien befangen sind, wissen doch insgeheim, dass es nur Humbug ist, verzweifeltes Festhalten am Aberglaube aus Angst vor dem Tod. Was aber ist Tod?
Der Tod ist ein Nichts. Die Seele, die jene Verdauungsfunktion, die Sinne und den Geist zum Funktionieren gebracht hat, ist erloschen. Wir sind nur noch für eine begrenzte Zeit ein toter Körper, eine Hülle, in die ein Forensiker hineinschneiden mag, so viel er wolle, wir spüren sein Skalpell nicht mehr, und auch nicht die Würmer und Mikroben oder die Flammen, die den Körper zersetzen. Das Licht ist ausgeschaltet und es ist dunkel, ohne dass wir noch davon wissen. Wir haben weder Hoffnung noch Verzweiflung. Alles ist uns egal, oder genauer, es gibt kein uns mehr, dem etwas gleichgültig sein könnte. Hat man sich vor dem Tod Sorgen um die Kinder gemacht, so ist das nun vorbei – sie sollen sehen, wie sie allein mit dem, was sie an Charakter und Vermögen geerbt haben, zurechtkommen. Der zurückgebliebene Ehepartner, wenn es einen gibt, muss ebenfalls allein durchs Leben gehen, ich kann ihm als Toter nicht mehr helfen. Selbst wenn verrückte Politiker einen Atombombenkrieg vom Zaun brechen und die ganze Menschheit auslöschen würden, es ist uns Toten gleichgültig, weil wir nicht mehr sind. Angesichts dessen, was der Tod ist, wäre das Leben eine gute Alternative, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Warum sich also umbringen?

Man wird einwenden: Da gibt es das Alter, die Krankheiten häufen sich, Schmerzen werden unerträglich. Oder man dämmert dahin. Der andere fühlt sich von der Familien ausgestoßen wie Gregor Samsa in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Wieder ein anderer hat keine Funktionen mehr in der Gesellschaft, der er vierzig Jahre „gedient“ hat im Berufsleben und zehn Jahre als Ehrenamtlicher. Was aber zählt das, solange man noch ein Buch lesen, Musik hören oder bewegte Bilder verstehen, solange man noch unter Bäumen gehen, an Blumen riechen kann? Und gegen Krankheiten gibt es Medizin, gegen Schmerz Palliativmittel. Ist man aber geistig weggetreten, dämmert dahin, dann ist man auch zu keinem Selbstmord mehr fähig. Und was die Ausgrenzung aus der Familie oder der Gesellschaft betrifft, hat man nicht auch sein eigenes Leben gelebt, war man nur Mittel für andere, hatte man kein eigenes Selbst? Dann war man vielleicht bereits tot, ohne es gemerkt zu haben. Wie Brechts Greisin kann man auch noch ein drittes Leben, nach Kindheit und Familie, anfangen.

Es gibt auch eine gesellschaftliche Dimension des Selbstmordes. In einigen Ländern Europas hat man die Selbsttötung erlaubt, Hilfe zur Selbsttötung oder gar die Tötung von fremder Hand unter Einwilligung des Opfers nicht mehr unter Strafe gestellt. In Holland können bei Schwerkranken sogar Ärzte entscheiden, wann die lebensrettenden Maschinen abgeschaltet oder die erhöhte Dosis gesetzt werden darf. Wie leichtfertig damit umgegangen wird, demonstrieren ältere Patienten, wenn sie ins Krankenhaus müssen: Sie stecken sich einen Zettel in ihren Pyjama, auf dem steht: „Lieber Arzt, mach mich noch nicht tot.“ In Deutschland ziert man sich noch wegen der unsäglichen Vergangenheit mit ihren Massenmorden.

Wenn Fritz J. Raddatz fordert, beim Selbstmord auf der Höhe der Zeit einiger unserer Nachbarn zu sein, dann fordert er einen solchen Umgang mit dem Selbstmord, er hat ausdrücklich in dem Fernsehinterview vor seinem Tod die Schweiz genannt. Seine Forderung trifft sich mit den Interessen der Kostensenker. Das Kapital ist immer bestrebt, die Lohnnebenkosten, also z. B. Renten- und Krankenkosten, zu senken. Bei den immer mehr fallenden Profitmarschen ist dies notwendig. Zwar ist das Kapital auch erfreut, wenn die Menschen immer älter werden, denn dann können sie länger arbeiten, das Renteneintrittsalter lässt sich nach oben verschieben. Doch ein Mensch ist für das Kapital nur „rentabel“, wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung nicht allzu weit überschreitet. Für einen Hundertjährigen fallen mehr Renten- und Krankenkosten an, als er und seine Arbeit-“geber“ jemals hätten in das System einzahlen können. Das Kapital, der moderne Gott der Gegenwart, wäre also erfreut, wenn auf seinem Altar viele Menschen, nicht weit über achtzig Jahre, Selbstmord wie Raddatz (83) begehen würden. Diese Leute senken seine Kosten, sie haben sich rentiert in ihrer Lebensleistung für den modernen Moloch.

Wie weit diese Verwertbarkeit des Menschen gehen kann, ist bei Peter Singer nachzulesen. Für ihn ist die „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ - die nicht-religiöse Variante heißt: der Mensch ist immer als Zweck an sich selbst zu behandeln - nicht begründbar. Er plädiert für Euthanasie, den sanften Tod, nach folgendem Kriterium: „Das Leben derer, die nicht im Koma liegen und die Bewußtsein, aber keine Selbstbewußtsein haben, hat dann einen Wert, wenn sie mehr Lust als Schmerz empfinden oder Präferenzen haben, die erfüllt werden können; doch es ist schwer einzusehen, warum man solche menschlichen Wesen am Leben erhalten sollte, wenn ihr Leben insgesamt elend ist.“  Beihilfe von Ärzten zum Selbstmord wäre immer gerechtfertigt. Liegen Menschen im dauernden Koma, dann ist für ihn Euthanasie sowieso klar. Wie die goebbelssche Propaganda für Euthanasie führt er krasse Fälle an, um seine These zu rechtfertigen. Diese Art des Utilitarismus ohne Prinzipien, der Schluss vom Einzelnen aufs Allgemeine, ist dem Kapital angenehm.
Nun würde Raddatz einwenden, wenn er nicht tot wäre, einen Selbstmord begeht man nicht, um die Profitrate des Kapitals zu erhöhen und die Kosten des Staates zu senken, sondern aus individuellen Gründen, indem man sagt: Nun reicht es für mich! Das mag für einen Intellektuellen gelten, obwohl das zumindest moralisch fraglich ist, es gilt aber nicht für den gewöhnlichen Medienkonsumenten, der seit Jahrzehnten an den produzierten Mainstream der vorherrschenden Meinungen gebunden ist. Und wenn der Intellektuelle Selbstmord begeht und dies in die Tendenz der Ideologie passt, dann verstärkt er noch diese Tendenz, vor allem dann, wenn er seinen Selbstmord dazu benutzt, noch einmal in den Medien  (Fernsehen und Zeitung) präsent zu sein. Wäre es wirklich eine individuelle Entscheidung, dann bräuchte er kein Buch über den Selbstmord zu schreiben wie Jean Améry oder Fernsehinterviews über dieses Thema geben wie Raddatz.

Mein Hauptargument gegen den Selbstmord aber ist die Moral. Wenn ich nicht möchte, dass Menschen zu bloßen Mitteln werden, als Opfer in propagandistischen Hinrichtungsvideos, als Menschen in moderner Sklaverei oder auch nur als Lohnarbeiter, die lebenslang zum Ausbeutungsobjekt des Kapitals degradiert werden, dann kann ich nicht Selbstmord begehen und mich selbst zum bloßen Mittel der Tötung durch ein verkehrtes Ich machen. Das wäre ein Lebenswiderspruch.

Nun will ich nicht bestreiten, dass es einzelne Situationen gibt, in denen eine Selbsttötung vielleicht doch angebracht ist. Als Empedokles in Hölderlins Drama „Der Tod des Empedokles“ am Rande des Vulkans Ätna sitzt und im Begriff ist, hineinzuspringen, kommt Menon (ein Pseudonym für Hegel) daher und bringt ebenfalls das Argument vor, Selbstmord sei unmoralisch, und wohl weitere allgemeine Gründe gegen den verhängnisvollen Sprung in den Tod. Empedokles (der Hölderlins Meinung ausdrückt) antwortete: So hilf mir Individuum doch mit deinen Allgemeinheiten. Es gibt anscheinend Situationen, da bleibt einem fast nichts anderes übrig, als Selbsttötung zu begehen. Etwa wenn die Häscher Neros unterwegs sind, um Cicero zu ermorden; ist es da nicht würdiger, sich die Pulsadern zu öffnen, bevor ihn die Büttel zu Tode schinden? Oder wenn jemand von einem Folterregime eingesperrt wurde und in Gefahr gerät, seine Kameraden zu verraten; ist es da nicht besser, sich selbst zu töten als die Schuld am Tode vieler anderer auf sich zu laden?

Doch in solchen Fällen ist die Selbsttötung der brutalen Situation geschuldet, nicht nur eine freie Willensentscheidung. Letztlich gilt dies auch für ein Leben mit unerträglichen Schmerzen, wenn selbst die Palliativmedizin nicht mehr helfen kann. Es bleibt dabei, ein Selbstmord aus freien Willen, weil einem das Leben überdrüssig geworden ist, kann nicht gerechtfertigt werden. Aber es gilt auch: individuum est ineffabile.

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Letzte Aktualisierung:  14.11.2014

                                                                       
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