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Bodo Gaßmann

Von der Beliebigkeit der swinging single                

Noch mal über Abtreibung und Moral

Meinungen gibt es viele, das Für und Wider Abtreibung lässt sich ins Unendliche fortführen. Dem kann nur eine prinzipielle Argumentation abhelfen. Wer aber keine Prinzipien hat, ist auf die Beliebigkeit der Meinungen und die Propaganda sowie die Interessen, die dahinter stehen, angewiesen.

In der Zeitung „der Freitag“, auf ihrem Internetportal, erschien ein Artikel mit dem Titel „Ihre Entscheidung“. (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ihre-entscheidung) Die Autorin Rebecca Schiller ist „Kovorsitzende der britischen NGO Birthrights und arbeitet in London als Geburtsbegleiterin“. Triumphierend zitiert sie eine Studie aus den USA, der zufolge „sind 95 Prozent der Frauen, die eine Abtreibung gemacht haben, davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.“ Die Autorin fordert dementsprechend, als ob Mehrheiten über wahr und falsch, gut oder schlecht, abstimmen könnten: „reproduktive Freiheit“. Diejenigen, die gegen Abtreibung sind, argumentierten entweder „pauschal“ oder seien „Konservative“, deren „Propaganda“ oder deren „pathetische Traktate“ man nicht aufsitzen solle. Dass es auch vernünftige Gründe gegen Abtreibung gibt, kommt bei ihr nicht vor.

Auffällig an ihrem Artikel ist nun, dass kein einziges moralisches Argument vorkommt. Anscheinend ist Moral inzwischen eine Domäne der Konservativen geworden, die sie kritisiert. Selbst in den Leserkommentaren kommen moralische Argumente kaum vor, und wenn, dann nur in irrationaler Form in der Berufung auf Gott - was daraus folgt, wird nicht deutlich. Stattdessen beruft sich die Autorin auf das „Gefühl“, ein Wort, das inflationär in jedem Abschnitt vorkommt. Das „Gefühl“ der Frauen, die abtreiben, kann aber nicht der alleinige Maßstab für die Tötung eines werdenden Menschen sein.

Kritik der Gefühlsmoral

Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, schrieb der Ethiker (und Ökonom) Adam Smith, dass nur „eine unmittelbare Empfindung und ein Gefühl“ die Voraussetzung „von recht und unrecht“ sein können. „Diese ersten Wahrnehmungen können ebensowenig wie alle anderen Erfahrungen, auf welche sich allgemeine Regeln gründen, Gegenstand der Vernunft sein, sondern müssen Gegenstand einer unmittelbaren Empfindung oder eines Gefühls sein.“ (Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977, S. 533) Vernunft gilt lediglich als instrumentelle, das Gefühl ist die Basis der Moral. Auch wenn sie das nicht weiß, steht Rebecca Schiller in dieser Tradition des englischen Empirismus. Im Gegensatz zu Adam Smith, der noch aus dem Gefühl allgemeine Prinzipien der Sittlichkeit ableiten wollte, gibt es für Schiller überhaupt keine Moral, stattdessen nur Popular-Psychologismus: Frau solle sich „diese Gefühle eingestehen und offen mit ihnen um(zu)gehen“, und ansonsten reproduktive Willkür üben (sie fordert, „dass Frauen selbstbestimmt entscheiden können“).

Doch auch eine reflektierte Gefühlsmoral wie bei Shaftesbury, Hutcheson, Hume und Adam Smith ist nicht akzeptabel. Gefühle sind ambivalent, individuell und historisch veränderlich, aus ihnen lassen sich keine moralischen Regeln begründen, auch nicht durch Induktion (Smith) oder aus dem feinsinnigen Gefühl des Edelspießers Shaftesbury. Auch nicht aus dem „Normalmenschen“ der Axiologie (Windelbandt) (1), der sich als Untertan entpuppt hat, wie ihn Heinrich Mann in seinem gleichnamigen Roman satirisch gezeichnet hat.

Eine Gefühlsmoral ist schon logisch unmöglich. Ein Gefühl lässt sich nur in einem partikularen Urteil ausdrücken, aus einer Menge von partikularen Urteilen folgt aber kein allgemeines, weil diese untereinander logisch nicht zwingend verknüpfbar sind. Der eine will Menschen züchten, der andere meint, dass es zu viele Menschen auf der Erde gäbe, der eine will als Sadist andere quälen, dagegen steht der Masochist, der gequält werden will. Der eine mag Birnen, der andere fühlt sich zu Äpfeln hingezogen, wieder ein anderer hasst Früchte. Wer so umstandslos das Gefühl als ausschlaggebend für die Tötung eines werdenden Menschen propagiert wie Rebecca Schiller, der negiert alle Moral, der hat keinen allgemeinen Maßstab mehr, für das, was die Gesellschaft erlauben kann und was nicht. Er könnte z. B. auch Kinderschänder nicht kritisieren, denn diese fühlen sich zu Kindern hingezogen.

Negiert man aber jegliche Moral, dann herrscht allein die Gewalt, die hinter der willkürlichen Entscheidung steht. Jede Gesellschaft, wenn sie nicht in Chaos und Willkür ausarten will, muss die Sicherung des Lebens der Menschen durchsetzen. „Du sollst nicht töten“ als 6. Gebot ist nicht deshalb falsch, weil es angeblich von einem Gott stammt, sondern obwohl es heteronom begründet oder abgesichert ist, drückt es doch Erfahrungen aus. Das Tötungsverbot lässt sich aber auch mit der heute möglichen avancierten Vernunft begründen (siehe unten).

Dass eine Frau, die reproduktive Willkür propagiert, sich nicht um Moral schert, verweist auf die Abwertung der Moral heute in der kapitalistischen Gesellschaft. In der Arbeit hat man seinen Chef, in der Schule lernt man, was der Staatslehrer einem vorschreibt, in der Familie bringt man den Kindern die Charaktereigenschaften bei, die ihr späteres Funktionieren gewährleisten, und beim Vergnügen wird man durch die Medien auf oberflächliche Gefühle, billigen Kitsch und ideologisches Amüsement reduziert. Für die nun, die eine höhere Moral als bloße Anpassung an entfremdete Verhältnisse verlangen, hält die Bewusstseinsindustrie „Werte“, gar „Grundwerte“, bereit, an denen man sich erbauen kann, die aber nichts mit der schmutzigen Praxis der Geschäfte zu tun haben. Doch selbst auf diese Werteideologie wird bei der Rechtfertigung der Abtreibung nicht angespielt. Allein das „Gefühl“ ist das Kriterium für die Tötung menschlichen Lebens. („Sie hatte das Gefühl, nur zwischen Abtreibung und Selbstmord wählen zu können“.)

Nun gibt es in der antagonistischen Gesellschaft bestimmte Situationen, die es rechtfertigen, dass eine Frau ihren Embryo oder Fötus abtreibt, ebenso sind individuelle Gründe, z. B. Krankheiten, denkbar. Aber ohne den moralischen Aspekt zu berücksichtigen, lediglich die „reproduktiven Freiheiten“ in Anspruch zu nehmen, ist Abtreibung nicht akzeptabel, weil bloße Willkür, also keine Freiheit.

Der Mensch als Zweck an sich selbst

Wenn nach Kant das Moralgesetz das „Gesetz der Freiheit“ ist, dann kann reproduktive Willkür keine Freiheit sein. Das Moralgesetz sagt: Behandle einen Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst. Das Töten eines Menschen, und dazu gehört auch die befruchtete Eizelle bis zum Fötus kurz vor der Geburt, macht ihn zum bloßen Mittel, ist also sittenwidrig.

Ich habe dies philosophisch begründet in meinem Essay „Was sagt die materialistische Ethik zur Stammzellenforschung? (http://www.archiv.erinnyen.de/bis%202004/2004h.html#materialistische)
Dass der Mensch immer als Zweck an sich selbst zu behandeln ist, „begründet Kant mit dem intelligiblen Substrat, das dem menschlichen Dasein zugrunde liegt. Soweit die Forschung über den Menschen auch fortschreitet, dieses intelligible Substrat ist nicht empirisch konstatierbar, muss aber dennoch vor jeder empirischen Forschung angenommen werden, denn sonst hätte diese keinen Gegenstand. Karl Heinz Haag hat im Anschluss an Kant die metaphysische Voraussetzung der modernen Naturwissenschaften schlüssig formuliert:“

"Positiv bestimmbar an stofflichen Dingen ist einzig ihr funktionales Verhalten - aber nicht das, worin sie ontologisch gründen: das Prinzip ihrer Genesis. Ihm gegenüber haben die von den physikalischen Wissenschaften erkannten Gesetze nur partikuläre Bedeutung: wie die stofflichen Prozesse, die ihnen gehorchen, sind sie bloße Mittel zur Hervorbringung des totum - einer res naturalis. Erst die Koordination einer Reihe ganz bestimmter Naturgesetze führt zu Wirklichem. Solcher Koordination sind sie selbst nicht mächtig: keines von ihnen impliziert eine Beziehung auf das Ding, bei dessen Genesis sie mitwirken. Bezogen auf ein Telos kann ein Prozesse steuerndes Prinzip nur sein, wenn es das Ziel virtuell in sich enthält. Insofern muß jenes Prinzip mehr besagen als die Summe der Gesetze, die es auf ein bestimmtes Telos hin koordiniert. Als die gestaltende Form stofflicher Dinge gehört es einer anderen Dimension an: dem für menschliches Erkennen begrifflich nicht fixierbaren Bereich des intelligiblen Ansichseins von Welt. Diese negative Seite an metaphysischer Erkenntnis läßt Metaphysik nur als negative Metaphysik zu. Ohne das von ihr visierte Ansichsein empirischer Dinge würde physikalische Forschung zu etwas völlig Imaginären: einem Vorgang, der keine ontologische Grundlage hätte." (K. H. Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, Ffm. 1983, S. 12 f.)

So wie ein Grassamen die ganze Pflanze virtuell in sich enthält (ein Beispiel Kants), so ist die befruchtete Eizelle virtuell ein Mensch. Wer wollte entscheiden, ein Mensch sei erst in der dritten Woche, im dritten Monat oder kurz vor der Geburt ein Mensch? Deshalb ist jede Abtreibung die Tötung menschlichen Lebens.

Gälte das Moralgesetz nicht, dann könnte man Mord rechtfertigen, Euthanasie und Sklaverei. Letztlich führte dies zu einem Bürgerkrieg, in dem niemand mehr frei ist, das Leben wäre unsicher und elend. Nun ist in der kapitalistischen Gesellschaft Westeuropas der Krieg eines jeden gegen jeden durch staatliches Recht und staatliche Gewalt im Allgemeinen stillgestellt, aber aufgrund der Eigentumsverhältnisse führt die strukturelle Gewalt dazu, die Menschen zum bloßen Mittel der Kapitalproduktion zu machen. Bei dem heutigen durchschnittlichen Sozialcharakter liegt der Verdacht nahe, die reproduktive Willkür führt bei vielen Frauen lediglich dazu, sich für die Karriere in der Hierarchie der Lohnabhängigen zu qualifizieren („Als sie abtrieb, war sie 19 und ging noch zur Schule.“) Stimmt diese Vermutung, dann ist die Entscheidung für eine Abtreibung keine „Verantwortung“, nicht „selbstbestimmt“ und „Freiheit“ schon gar nicht, sondern Anpassung an die Verhältnisse, fremdbestimmt und Sklavenmoral (im Sinne Nietzsches zur Andienung an die Kapitalherrschaft).

Selbstverständlich gibt es Gründe für eine Frau, abzutreiben, etwa wenn ihr Leben und ihre körperliche oder psychische Gesundheit gefährdet sind, auch soziale Gründe kommen in Frage. Und wie weit das rechtlich zu regeln ist, will ich hier nicht entscheiden. Aber ohne das Moralgesetz zu bedenken, bloß dem Gefühl zu folgen, ist kein Ausdruck der Freiheit, sondern Ich-fixierte Verantwortungslosigkeit.

(1) Vgl. Gaßmann: Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. Über die Selbstzerstörung der bürgerlichen Vernunft, Garbsen 2014.

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