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Rezension

BodoGaßmann

Berechtigte Kritik wird mit falscher Theorie zur Ideologie

Über Precht/Welzer: Die vierte Gewalt

Wer sich an die Öffentlichkeit wendet,
der muss deren Spielregel akzeptieren – die lautet Kritik.
 (Der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelsohn)

„Was ich von euch fordere
Das ist Vertrauen und noch einmal Vertrauen.“
(Arturo Ui (alias Hitler) in dem gleichnamigen Parabelstück von Brecht.)

„Vertrauen herstellen“
(Precht/Welzer: Titel des letzten Kapitels)

Das Buch von Precht/Welzer (Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, Ffm. 2022) steht auf der Bestseller-Liste des „Spiegel“ auf Platz eins der Sachbücher. Vermutlich wollen die Leser wissen, nachdem Querdenker, Verschwörungstheoretiker und andere Idioten ständig „Lügenpresse“ schreien, was wirklich los ist mit unseren Hauptmedien. Und tatsächlich führen die Autoren viele Missstände an. Vor allem die „Direktmedien“ aus dem Internet, vor allem Twitter, personalisieren ohne Kontext und Sachkenntnis, ignorieren Argumente und Differenzierungen, Beurteilen ohne die Thematik zu verstehen bis zur Gedankenpolizei, die sie sich anmaßen. „Ein personalisierender, sensationierender und moralisierender Journalismus kann mit Dilemmata und Ambivalenzen nichts, aber absolut gar nichts anfangen.“ (Vierte Gewalt, S. 232) Die Autoren sehen die Tendenz, dass auch die „amtierenden Massenmedien“ (S. 247) sich dieser „journalistischen Anmaßung“ immer mehr anpassen. Das führt dazu, „dass Menschen gute Gründe dafür haben, Medien zu misstrauen“ (S. 251). Ihrer Ansicht nach müssen die Medien zwischen Politik und Gesellschaft vermitteln, wenn sie dies nicht oder falsch machen, dann „ist der Vertrauensverlust in sie eine Katastrophe“ für die Demokratie (S. 250).
   Im Einzelnen kritisieren sie:
Die „hohldrehende Redundanz“, indem die Journalisten einfach voneinander abschreiben. So wenn in der Kölner Silvesternacht von „Tausenden betrunkener junger zumeist arabischer Männer“ im Internet berichtet wurde, die Frauen wie „Freiwild“ behandelt hätten. Tatsächlich gab es 600 Anzeigen, über Verurteilungen wurde kaum berichtet.
  Weiter gehört zu den kritisierten Aspekten die Personalisierung von Sachproblemen und das Aufzwingen von Medienmaßstäben. Man inszeniert Politik, anstatt sachlich zu berichten. Das führt dazu, dass die Politiker dazu gezwungen werden, sich selbst zu inszenieren.
   Die Produktion von Erregungskurven und das Skandalisieren von Lappalien ist ein weiteres Merkmal der „Mediokratie“. Das Erregen und Emotionalisieren dient dazu, die Verkaufszahlen oder die Klicks für Werbeeinnahmen zu erhöhen. So erfanden die Journalisten das Wort „wulfen“, um Korruption bei dem damaligen Bundespräsidenten zu charakterisieren, obwohl er später in allen Gerichtsprozessen freigesprochen wurde.
   Die Medien spalten künstlich die Gesellschaft durch Polarisierung und „Verzweiseitigung“, allerdings steht dahinter ein Maßstab der Autoren vom Zusammenhalt der Gesellschaft, der selbst fraglich ist (siehe unten).
   Da viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den Hauptmedien nicht repräsentiert werden, entstehe eine „Repräsentationslücke“, welche ebenfalls die Gesellschaft spalte.
   Die Autoren beklagen die Einseitigkeit der Berichterstattung, wenn es um Einschränkungen der Wirtschaft geht (gegen Linke und Grüne).
   Vor allem aber wird die offensichtliche Gleichartigkeit der Berichterstattung in allen Hauptmedien in Bezug auf den Ukrainekrieg kritisiert.
   Als Gegenkritik ist bei der Auflistung dieser Phänomene einzuwenden, dass die „Direktmedien“ (Internet-Medien) von den Autoren einseitig beurteilt werden, obwohl sie teilweise höhere Qualität haben als die Hauptmedien – eben weil sie nicht unter Zeitdruck stehen (z. B. „Kritiknetz“, „Nachdenkseiten“ usw.)
   Als der Rezensent dieses Buches in den 70er Jahren einmal die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ besuchen konnte, wurde ihm gesagt, dass von 100 Nachrichten nur etwa 10 Prozent in die Zeitung gelangen würden, allein aus Platzgründen. Das war im Zeitalter des Fernschreibers. – Heute ist die mögliche Menge der Nachrichten quasi ins Unendliche angewachsen, der Platz zum Drucken in den Hauptmedien ist aber im Verhältnis dazu eher konstant geblieben. Wer also wählt aus, nach welchen Kriterien mit welchen Interessen? Obwohl die Autoren die 60er bis 80er Jahre verherrlichen – wider bessere Einsicht –, wusste schon damals jeder Journalist, dass es nicht auf die politische Bedeutung und die rationale Orientierung ankam, sondern auf die Personalisierung der Nachricht, den human touch, die Nähe zum Leser: (eine Katze auf dem Baum im Nachbargarten ist eine bessere Nachricht als ein Krieg weit weg in der Türkei usw.).
   Precht/Welzer haben als Maßstab ihrer Kritik das Ideal der Vierten Gewalt. So gehen sie vom Ideal aufgeklärter Medien aus und kritisieren die Verstöße dagegen. Sie unterstellen, dass die Bürger „Systemvertrauen“ entwickeln sollen, einen Zusammenhang der Menschen („Kit“), der unerlässlich für ein funktionierendes Gemeinwesen sei. Die Rolle der Leitmedien sei es, die „verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen politisch und medial“ zu repräsentieren. Die Medien seien dann eine „Vierte Gewalt“ (vgl. Precht/Welzer, a. a. O., S. 47). „Deliberativ, inklusiv, integrierend, vermittelnd, bürgernah, pluralistisch, demokratiefördernd“ (S. 58) – sollen die Medien in der heutigen Gesellschaft sein. Zugleich stellen sie fest, dass dieses Ideal durch „Zeitungstycoone“ (S. 48), „Medienmanipulateure“ (S, 50) usw. nie erreicht wurde, sie schreiben deshalb „von der steigenden Gefahr eines gefährlichen Machtstrebens der Leitmedien“ (S. 55). Dies drückt sich u. a. so aus, dass einseitig Nachrichten ausgewählt werden, nicht objektiv über die Sache berichtet wird, sondern statt die Probleme darzustellen, der Krisenmodus der Politiker dargestellt wird, was ihren Diskurs zu einem „Selbstgespräch“ verengt, „das Politik und Leitmedien miteinander“ führen“ (S. 82). Dies tendiere „automatisch“ in eine „regierungsnahe Betrachtung“ der Dinge. Ja, die Medien werden selbst zu Akteuren, obwohl sie kein politisches Mandat haben, wenn sie z. B. die Regierung medial vor sich hertreiben, mehr und schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern (S. 35), obwohl in der Bevölkerung große Teile dagegen sind (S. 35 f.). Pazifisten werden unisono verunglimpft als „Putinversteher“, „Kapitulationsintellektuelle“ oder „Unterwerfungspazifisten“ (S. 34).
   Der Grund für die Skandalisierung von Nebensächlichkeiten, der Enthemmung des Journalismus, ihr Moralverlust, das Meuteverhalten, das eine öde Einstimmigkeit verursacht, sehen Precht/Welzer vor allem in einer Art Herdenmentalität, im Schwarmverhalten, in einer selbstdefinierten „Mitte“ (S. 146). Im Erfinden eines Wir: „(…) wo der Wundkanal des Zeitgeistes das Design bestimmt“ (146). Dabei sei es die Höchststrafe für Journalisten in der „Mediokratie“ außerhalb der Mitte sich zu platzieren. „Der zappelige Cursor der gefühlten Mitte gibt ihnen die einzige Richtung vor. Und das Wichtigste überhaupt wird die Frage: Wo muss ich stehen, wie mich positionieren, um diesen Cursor genau zu treffen?“ (S. 147) Mehr als 10 % Abweichung, und die Karriere als Journalist ist beendet. Der Druck durch die Online-Medien hat diese Tendenz noch verstärkt. Wer aber letztlich die „Mitte“ definiert, mit welchen Interessen, bleibt unklar.
   Damit sie die Konformität der Journalisten in den Hauptmedien erklären können, greifen die Autoren auf sozialpsychologische Studien zurück. Wenn sich Menschen (und Journalisten) konform verhalten, dann liegt das an der Identität der eigenen Gruppe oder einfach an der Menge, mit der man es gerade zu tun hat.
   Doch dieses konforme Verhalten, das auch zu negativen Auswirkungen führen kann, man denke an die „Volksgemeinschaft“ der Nazis, liegt vor allem daran, dass die Probanden in sozialpsychologischen Untersuchungen und allgemein die Mitglieder einer Menge kein autonomes Bewusstsein haben, keine eigene theoretische Position, sodass sie nur (über-)leben können, wenn sie sich an den mainstream anpassen. Interessanterweise gilt dies auch für Precht/Welzer, insofern sie der herrschenden Ideologie von den Idealen der bürgerlichen Demokratie, von den Idealen des Presse- und Medienwesens folgen und daraufhin die Missstände kritisieren. Paradoxerweise demonstrieren sie in ihrem Buch, dass diese Ideale systemisch nicht gelebt werden, nicht funktionieren. Statt nach den gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen, die das verhindern, stochern sie in der Pseudokonkretheit herum und suchen sozialpsychologische Erklärungen, die auf die reaktionäre Ideologie hinauslaufen, der Mensch ist von Natur aus unfähig, ein autonomes Wesen zu sein.
   Autonomie ist für Precht/Melzer allein eine „persönliche() Eigenschaft“ (S. 163 f.), keine des theoretisch reflektierten Bewusstseins, allein eine charakterliche Disposition, die nicht durch einen reflektierten objektiven Geist gefestigt ist. Ja, sie entblöden sich nicht, die Resultate der Sozialpsychologie aufgrund formaler Tests „neurowissenschaftlich“ zu untermauern, obwohl kein prinzipieller Zusammenhang zwischen neuronalen Vorgängen und gedanklichen (inhaltlichen) Aussagen möglich und nachweisbar ist. Genauso gut, oder besser schlecht, könnte man den Blutdruck eines Menschen als Beleg für die Wahrheit eines Gedankens nehmen. Zwar wird in ihrer Medienanalyse der Mensch nicht als „aggressiver Affe“ definiert wie in den 50er Jahren, um die deutsche Brutalität im Weltkrieg als natürliche zu interpretieren; aber die Rezipienten erscheinen fast durchweg als manipulierbare Geschöpfe, die fremdbestimmt werden, also bloße Mittel der Manipulation sind. Sie bedürfen der Leitmedien, um die richtige Meinung zu haben, die im Meinungsdesign verbleiben.
   Entsprechend ihrer abstrakten Perspektive müssen die Autoren die Konformität der Menschen, ihre Anpassungsleistung, auch positiv bewerten, weil wir Menschen „soziale Wesen“ (S. 167) sind. Wann sich die Menschen nun konform, wann sie sich nicht konform verhalten sollen, dafür haben die Autoren nur das Kriterium ihrer Ideale, von denen sie doch gezeigt haben, dass sie systemisch nicht funktionieren. Auch hier fehlt ihnen wieder eine kritische Gesellschaftstheorie, die solch ein Kriterium sein könnte. Dieser Theorie jedoch können sie nicht folgen, weil sie dann ihren ideologisierten Mainstream aufgeben müssten, was ihrer Karriere im Wissenschafts- und Medienbetrieb schaden würde.
   Das Erstaunen und die Kritik von Precht/Welzer über die negativen Phänomene im Medienwesen sind naiv. Hätten sie sich an der kritischen Gesellschaftstheorie orientiert, dann wüssten sie: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken (…). Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“ (Marx/Engels: MEW 3, S. 46) Precht/Melzer zitieren sogar diese Aussage von Marx und Engels, allerdings verkürzt, ohne „im Durchschnitt“, und können dann behaupten, dass „es heute für jede Art totalitärer Gesellschaft“ gilt. „Für moderne liberale Gesellschaften (…) trifft dies nicht zu.“ (Vierte Gewalt, S. 178) Bei Marx ist nicht in erster Linie der politische Einfluss von großen Vermögen oder des Staates auf die Presse gemeint, sondern dass Zeitungsverlage usw. selbst kapitalistische Betriebe sind, die per se kein Interesse daran haben, sozialistische oder kapitalismuskritische Gedanken zu verbreiten. Marx sagt deshalb an einer anderen Stelle, dass die erste Freiheit der Presse sein müsste, kein Gewerbe zu sein. Precht/Welzer zitieren also den Kritiker Marx, um seine Kritik zugleich zu neutralisieren. Wenn man von einem pragmatischen Begriff der Wahrheit (siehe unten u. Vierte Gewalt, S. 174) ausgeht, dann ist jede Marx-Fälschung erlaubt, wenn sie der herrschenden Meinung nützlich ist. Mit ihrer Vorstellung von Gesellschaftskitt, den Medien fördern sollten, bewegen sie sich gerade im Rahmen der herrschenden Gedanken, die medial im „Durchschnitt“ des bürgerlichen Pluralismus existieren. Völlig absurd wird die Kritik an dem marxschen Satz, wenn sie ihn in einem späteren Abschnitt selbst beweisen, dort schreiben sie über die Gleichschaltung der Leitmedien, indem sie eine Studie zitieren: „In den USA kontrollierten 1983 die 50 größten Unternehmen 90 Prozent der Medien. Gegenwärtig sind es nur noch sechs Konzerne, die über 90 Prozent dessen verfügen, was USA-Bürger*innen über die Medien zu sehen, zu hören und zu lesen bekommen.“ (S. 196) Sie kommentieren diesen Sachverhalt: „Es ist, wenn man es marxistisch formulieren möchte, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, der hier wirksam geworden ist.“ (S. 197) Wenn man solche Internet-Portale wie LabourNet liest, die von der Unterdrückung der Arbeiter in der Welt und ihren Kämpfen dagegen täglich berichten, dann weiß man, was die bürgerlichen Medien verschweigen – das ist der stumme Zwang der interessierten Ignoranz der Leitmedien.
   Der marxsche Begriff der „Klassengesellschaft“ ist jedoch ein Begriff, der auch bei bürgerlichen Kritikern nicht vorkommt oder marginalisiert wird. Auch hier vertreten sie wieder die (ideologischen) Gedanken der herrschenden Klasse. Und was Kriege und Gewalt betrifft, so hätten Precht/Welzer wissen können, dass Kapitalismus immer auch mit Imperialismus verbunden ist. Kapitalexporte, Rohstoffquellen und Handelswege zu sichern, gehört zu jedem (entwickelten) kapitalistischen Staat, was auch sein politisches Personal nicht verschweigt. („Wir müssen mehr Verantwortung in der Welt übernehmen.“) Das gilt nicht nur für den geopolitischen Krieg Russlands, sondern auch für den Handelsimperialismus, der fremde Gebiete allein über den Handel ausbeutet und nur gelegentlich militärische Gewalt einsetzt. Und wenn die Autoren wegen ihrer bloß oberflächlichen Demokratie-Theorie erstaunt darüber sind, dass in Kriegszeiten die Leitmedien „fast identisch“ die Linie der Regierungspolitik reproduzieren, obwohl hier eine Kluft zwischen Elite und Bevölkerung existiert (S. 32 f.), dann liegt das vor allem an einer fehlenden Theorie über den kapitalistischen Staat und seine demokratische Form. Bereits Marx hatte bei der Einführung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts über die (bürgerliche) Demokratie geschrieben: „Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktioniert, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen.“ (Marx, MEW 7, S. 43) Wie die Geschichte zeigt, hat die Bourgeoisie es in Westeuropa verstanden, ihre politische Macht in demokratische Formen durchzusetzen. Das kann sie allerdings nur, indem sie geistig die Massen gegen deren objektives Interesse manipuliert, ihnen die Gedanken der Herrschaft versucht zu suggerieren. Dies ist die objektive Funktion der Hauptmedien, wie immer sie pluralistisch oder einseitig sind.
   Precht und Melcher sind jedoch nicht völlig theorielos, als populäre Autoren, die auch an den Hochschulen arbeiten, müssen sie ihre Ansichten auf eine „Theorie“ beziehen, die ihr Konzept scheinbar rechtfertigt. Das ist bei ihnen der Konstruktivismus. „Realität ist immer das, was beobachtet wird: gesehen, gehört, gelesen, berechnet oder gemessen.“ (Vierte Gewalt, S. 94) Dagegen steht: Die traditionelle Aufgabe der Theorie ist es, zwischen Wesen und Erscheinung zu unterscheiden, um allgemein gültige Wahrheiten zu bestimmen. Das Problem, das Precht/Welzer thematisieren, ist jedoch nur die beschränkte und einseitige Auswahl der veröffentlichten Fakten. Dadurch aber bleibt das Denken in der Pseudokonkretheit befangen. Das Wesen dagegen soll sich auf die Gesetzmäßigkeit des Gegenstandes beziehen, es hat einen Bezug zur Wirklichkeit, von dem der Konstruktivismus systematisch abstrahiert, sodass dessen Resultate keine Objektivität beanspruchen können. Der Konstruktivismus und weiter der Pragmatismus, auf den er beruht (S. 173 f.), kappt skeptizistisch jeden ontologischen Bezug und subjektiviert alles Denken, sodass nur noch individuelle Setzungen übrig bleiben. (Vgl. Gaßmann: Manifest, Garbsen 2023, Kap. 3, Modell 5 u. 7) Welche individuelle Sichtweise gelten soll, wird von der „Kultur“, d. h. der herrschenden, bestimmt (vgl. Maxi Berger: Vom glücklichen Gebrauch, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 52/53, 2021, S. 112). Die Autoren fordern deshalb auch keine andere Sichtweise des mainstreams, sondern nur seine faktenmäßige Verbreiterung, damit Kritik möglich wird, die aber selbst im Rahmen des mainstreams verbleibt. „Die Leitmedien sollen die Realität so breit, umfassend und vielfältig zeigen, wie es ihnen irgend möglich ist; denn nur was medial wahrgenommen wird, kann zugleich gesellschaftlich bedeutsam, das heißt öffentlich werden.“ (Vierte Gewalt, S. 95) Das läuft letztlich auf eine individuell subjektive Konstruktion der Realität im Bewusstsein hinaus, der andere Konstruktionen mit dem gleichen Recht gegenüber stehen. „Meine Realität kann immer nur das sein, was von mir beobachtet und als Realität gedeutet wird.“ (S. 94) Der konstruktivistische Gewährsmann von Precht/Melzer ist Siegfried J. Schmidt (S. 78 u. Anm. 77), dieser gibt als Kriterium für die „richtige“ Konstruktion die vorherrschende Meinung an, d. h. die der Herrschaft. „Kultur steuert, welche Selektionen realisiert werden, sie relationiert die Selektionstypen, zeichnet gesellschaftlich akzeptable aus und sanktioniert andere. Damit stiftet Kultur individuelle wie soziale Identität und kompensiert die doppelte Kontingenz, die Kommunikation bestimmt.“ (Zitiert nach Berger: Vom glücklichen Gebrauch, S. 112) Berger schreibt zu solch konstruktivistischer Affirmation: „Kultur wird in diesen Formulierungen nicht nur zum Agens, sondern sie wird auch mit dem mainstream kurzgeschlossen. Die individuell abweichende Idee oder Kritik ist dennoch nicht unnütz in diesem projizierten Zirkel, denn sie ist der Antrieb zur Innovation, auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass sie ‚kulturrelevant‘ wird. Kommunikation sei der Katalysator zwischen der individuellen und der kultur-, d. i. systemrelevanten Ansicht. Weil Kommunikationsdesign die Kommunikation formt, wird sie systemrelevant. Es inszeniert die Wirklichkeit, trägt also zur Konstruktion bei. Wenn Design als kultureller Katalysator fungiert, dann ist es im radikalen Konstruktivismus das Zünglein an der Waage: Es prägt den mainstream und der mainstream ist die Wirklichkeit, die über den Erfolg oder Misserfolg von Entwürfen entscheidet. Kritik wird neutralisiert.“ (Ebd.) Das heißt Systemkritik. Im Konstruktivismus und seiner populären Variante bei Precht/Melzer wird systematisch von Wesensbestimmungen und damit von Gesellschaftstheorie abstrahiert, sodass die Erscheinungen im Schein verharren und der Rezipient sich sein eigenes Bild machen kann, d. h. in der Pseudokonkretheit verbannt bleibt wie der mainstream, ob er ihm folgt oder nicht.
   Allgemein zeigt diese Kritik an Precht/Melzer eine Regel: Eine Sachanalyse und die Kritik an Erscheinungen ist unzureichend, wenn sie nicht auf einer kritischen Philosophie und Gesellschaftstheorie beruht; und eine Philosophie, die nicht auf dem avancierten Stand der Vernunft beruht, muss zwangsläufig zu Fehlern und unzureichender Analyse von Sachverhalten führen. Der Grund liegt darin, dass eine Philosophie, die nicht auf dem avancierten Stand der Vernunft ist, widersprüchlich ist, aus Widersprüchen lässt sich das eine wie sein Gegenteil begründen – dadurch sind widersprüchliche oder irrationale Positionen in der Philosophie hervorragend geeignet, Ideologien zu gründen, das falsche Bewusstsein zur Herrschaftssicherung. Kritische Philosophie und ihr avancierter Stand der Vernunft ist jedoch ohne das Unbedingte nicht denkbar. (Siehe Gaßmann: Manifest, Kap. 3) Wenn die Schreiber von Sachbüchern keine durchdachte Philosophie haben, dann werden sie zu „Sklaven grade der schlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophien“ (Engels, MEW 20, S. 480). Das ist für den subjektivistischen Konstruktivismus, der ein Ableger des an sich bereits subjektivistischen Empirismus ist, der eher populärphilosophische, oder genauer ideologische Pragmatismus.
   Die Autoren beziehen sich auf den Pragmatismus von Willam James (Vierte Gewalt, S. 173). Für diesen gibt es keine universalen Wahrheiten noch „zeitlos richtige Erkenntnisse“, sondern die Menschen leben nach einer „pragmatischen Maxime“. Diese ist nur relevant für das Individuum, und das heißt, „was mir in irgendeiner Weise nützt“ (S. 174). Aus dieser individuellen Nützlichkeit ergebe sich auch unser Verständnis der Wirklichkeit. „Und Wirklichkeit ist das, was Menschen in ihrem Bewusstseinsstrom nützlicherweise dafür halten.“ (S. 175) Der entscheidende Begriff des Pragmatismus ist die „Nützlichkeit“. „Nützlichkeit bedeutet, dass wir eine Information als ‚wahr‘ akzeptieren, weil sie uns zweckdienlich dafür erscheint, um uns in der Welt erfolgreich zu orientieren.“ (Ebd.) Es gibt deshalb keine objektive von unserer Vorstellung von Nützlichkeit unterschiedene Wahrheit. „Wahrheit ist eine Funktion sozialer Übereinkunft, und ihr Zustandekommen im Bewusstsein jedes Einzelnen folgt einem psychologischen Muster und passiert den pragmatischen Korridor. Aus diesem Grund gibt es nicht nur kulturell und historisch unterschiedliche Wahrheiten, sondern auch unterschiedliche Geltungskriterien für das, was allgemein als Wahrheit gilt und was nicht.“ (S. 176) Dies gilt auch für „wissenschaftliche Wahrheit“. Thomas S. Kuhn hat daraus dann seine Paradigmentheorie entwickelt, nach der ein wissenschaftlicher Wandel, ein Paradigmenwechsel der Theorie, nicht durch die genauere Erkenntnis des Gegenstandes hervorgerufen wird, sondern durch die Konstellation, in der die wissenschaftliche Revolution des Paradigmenwechsels stattfindet, „so ändert sich damit auch die Welt, von der die Wissenschaft handelt.“ (Nida-Rümelin/Özmen (Hg.): Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 2007, S. 339) Mit dieser Philosophie wird das Denken völlig subjektiviert, es tritt das ein, was Habermas affirmativ das nachmetaphysische Zeitalter nennt, in der jeder ontologische Bezug des Denkens bestritten wird. Objektiv soll nur noch der Konsens sein – und der hat nichts mit dem extramentalen Gegenstand zu tun.
   Eine solche Auffassung muss die Kritik geradezu herausfordern. Wie für die Lebensphilosophie in den Geisteswissenschaften die Lebendigkeit so ist auch im Pragmatismus der Terminus der Nützlichkeit kein konsistenter Begriff, weil Nützlichkeit immer nur individuell oder gruppensubjektiv ist. Als prinzipiell partikularer Begriff kann er keine Objektivität begründen. Widersprüchliche Deutungen werden geradezu eingeladen. Logik, Widerspruchsfreiheit, Rationalität und Wissenschaftlichkeit werden verleugnet, dadurch ist der Pragmatismus eine Variante des Irrationalismus. Er widerspricht dem heute akkumulierten Wissen, das notwendige Bedingung der Möglichkeit gegenwärtiger Gesellschaften ist (Praxiskriterium). Der immanente Widerspruch jeder irrationalen Richtung der Philosophie ist es, dass sie die Logik usw. in ihrer Darstellung verwenden muss, sonst wäre sie unverständlich, zugleich aber deren allgemeine Geltung leugnet. Da die kapitalistische Gesellschaft von unbeherrschbaren Mechanismen regiert wird, ist der Pragmatismus eine pseudophilosophische Basis für alle möglichen Ideologien als soziologisch notwendiges falsches Bewusstsein zur Sicherung der Eigentumsverhältnisse. Wenn Wahrheit keinen ontologischen Bezug hat, nicht etwas an der extramentalen Sphäre trifft, dann ist das ptolemäische Weltsystem genau so wahr, weil für die damalige Gesellschaft nützlich, wie das heliozentrische Weltsystem, weil es heute nützlich ist. Die frühneuzeitliche Hexenverfolgung ist genauso gerechtfertigt, weil sie damals der Nützlichkeit der Herrschenden entsprach, wie heute die bürgerlichen Menschenrechte im liberalen Kapitalismus, die nützlich sind für den freien Wechsel der Arbeitskräfte, damit sie zu den produktivsten Betrieben gehen können. Die marxsche Theorie war im 19. Jahrhundert nützlich, weil sie dem Elend des Proletariats Abhilfe versprach, heute aber falsch ist, weil die Arbeitenden in ihrer Masse bessere Lebensbedingungen genießen. Precht/Welzer können sich also im Reich der Theorien die aussuchen, die ihrer publizistischen Karriere nützlich sind. Und nützlich sind Theorien dann, wenn sie Herrschaftsverhältnisse ideologisch rechtfertigen helfen und zugleich Kritik erlauben an Tendenzen, die das freie Spiel der Interessen im Kapitalismus stören. Wenn der heutige Mainstream der Hauptmedien zur „Polarisierung und Verzweiseitigung“ neigt, die Autoren jedoch eine breite Berichterstattung fordern, die „Abbild realer Meinungslandschaften“ sein soll (S. 207), dann ist ihre explizit geäußerte Intention, die künstliche Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. (S. 206) Damit aber vertreten sie eine prokapitalistische Ideologie, die den Klassengegensatz in der Gesellschaft verschweigt, verleugnet oder herunterspielt.
   Die Autoren üben berechtigte Kritik an Erscheinungen der Hauptmedien, aber eine theoretische falsche Erklärung der Phänomene. Sie führen den Nachweis, dass die Ideale der Vierten Gewalt und der Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft nicht wirksam sind. Indem sie diese Fakten pseudowissenschaftlich erklären, sind sie dadurch selbst ein Teil des heutigen ideologischen Universums.

B. Gaßmann

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