Artikel drucken | Erinnyen Aktuell August 2004 |
So
irrational dieser Angriff sich auch
erweist – er soll den Gegnern der gefestigten Verhältnisse auch noch die Möglichkeit
bestreiten, diese Verhältnisse zu kritisieren. Eine verändernde Kritik und die
Antizipation sozialistischer Verhältnisse erscheint dann als ein Verstoß gegen
Naturgesetze, scheint also widernatürlich zu sein.
Wissenschaftliche Forschung
ist nicht nur durch das Streben nach Wahrheit motiviert, auch nicht nur nach
verwertbaren Resultaten. Forschungsgelder, wissenschaftliche Karrieren und ideologische
Bedürfnisse, also wissenschaftsfremde Aspekte, spielen ebenso eine Rolle. Für
viele Forscher gilt publish or perish. Da wird schon einmal eine
partikulare wissenschaftliche Einsicht zur philosophischen Revolution aufgebläht.
Die meisten Naturwissenschaftler haben kein wahres Selbstbewusstsein über ihr
Tun. Wenn sie philosophisches Wissen haben, dann als Erzählung aus einer
Geschichte der Philosophie, nicht als Argumentation. Sie suchen sich dann die
passende Erzählung für ihre Vorurteile heraus, ohne sie wirklich gründlich zu
reflektieren. Meist sind es dann noch die heute vorherrschenden philosophischen
Vorurteile. So blähen sie ihre nicht verstandenen metaphysischen Prämissen
zu einer kruden Metaphysik auf, die sich als frei von Metaphysik ausgibt.
Wirkung kann dieses amateurhafte Philosophieren nur deshalb haben, weil es ein
ideologisches Bedürfnis der kapitalistischen Gesellschaft bedient.
So hat der Neurophysiologe
Benjamin Libet angeblich bewiesen, „dass der Mensch nicht weiß, was er
tut“. (1) Der Hirnforscher Wolf
Singer überträgt diesen Gedanken in die Sprache der Philosophie und behauptet,
dass der freie Wille des Menschen bloß eine kulturelle Illusion wäre. Die mehr
an Trends und Karrieren orientierten Sozialwissenschaftler greifen diese
angebliche Einsicht begierig auf. So heißt es in einem Spiegelartikel:
„Jede Erziehung basiert
auf der Überzeugung: Die Umwelt prägt. Jetzt aber, beeindruckt von den neuen
Biowissenschaften, beginnt ein Teil der Sozialwissenschaftler den Rückzug
anzutreten. Bewundernd blicken sie auf die Befunde der Neuro- und Genforscher
und fragen sich, ob sie sich von ihrem bisherigen Denken verabschieden
sollen.“ (2)
Benjamin Libet hatte vor
Jahren angeblich herausgefunden, dass unser Gehirn vor einer bewussten
Entscheidung bereits für uns entschieden habe. Im Spiegel-Artikel liest sich
das dann so: „In dem Moment, da die Probanden glaubten, ihre Entscheidung zu
treffen, waren die Neuronen in ihrem Gehirn längst aktiv. Mindestens eine
drittel Sekunde vorher schon hatten sie die Entscheidung gefällt – das
Bewusstsein kam zu spät.“
Was hat nun Libet
wirklich herausgefunden? In einem
seriösen Buch über das Verhältnis von Bewusstsein und Gehirn stellen die
Autoren dieses Experiment etwas genauer dar:
„Libet bat seine
Versuchspersonen, zu einem willkürlichen, selbst gewählten Zeitpunkt einen
Finger zu heben und den Augenblick, in dem ihnen ihr Vorsatz bewusst wurde, frühestmöglich
zu registrieren, indem sie sich die Position eines wandernden Punktes merkten.
Er stellte fest, dass das Einsetzen des Bereitschaftspotenzials grundsätzlich
der Realisierung der eigenen Bereitschaft vorausging, und zwar im Schnitt um 350
bis 150 Millisekunden. Er schloss daraus, dass die zerebrale Initiation einer
spontanen, völlig freiwilligen Handlung unbewusst stattfinden kann, das heißt,
bevor es irgendein erinnerbares Gewahrsein dessen gibt, dass das Großhirn
bereits den Entschluss gefasst hat zu handeln. Damit sieht es ganz danach aus,
als setze das Gewahrwerden einer motorischen Intention, genau wie das Wahrnehmen
eines sensorischen Stimulus, eine zugrunde liegende neurale Aktivität voraus,
die eine beträchtliche Zeit hindurch – in der Größenordnung von 100 bis 500
Millisekunden – anhalten muss.“ (3)
In dem bereits zitierten
Spiegelartikel wird daraus und anderen angeblichen Einsichten der Hirnforschung
die Abschaffung des Ich: „Die
Abschaffung des Ich – eine Horrorvision? Nein, findet die britische
Psychologin Susan Blackmore. Sie ist Dozentin an der Universität of the West of
England in Bristol und sagt: ‚Wenn man jemand den Schädel öffnet, dann
findet man keine Seele. Man findet Gehirnzellen. Kein Selbst ’.“ (4)
Wir sind keine
Neurophysiologen, aber das vor einer Entscheidung Hirnaktivitäten stattfinden,
ist keine Überraschung. Jeder, der seinen Blutdruck regelmäßig messen muss,
weiß z.B., dass er ansteigt vor wichtigen Entscheidungen. Die Hirnaktivitäten
erhöhen sich vor jeder bewussten Entscheidung – das ist durch dieses
Experiment bewiesen, aber mehr auch nicht. So schreiben Edelman und Tononi:
„Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten, uns konzentrieren oder in
unserem Bewusstsein nach etwas kramen, wenn wir darum ringen, uns an etwas zu
erinnern, wenn wir eine Zahl oder eine Vorstellung in unserem Arbeitsspeicher
auf Vorrat halten, eine Kopfrechnung durchführen oder uns eine Szene vergegenwärtigen,
wenn wir tief in Gedanken versunken sind, Künftiges planen oder irgendetwas
aushecken, wenn wir versuchen, uns die Konsequenzen unserer Planungen und
Vorhaben zu vergegenwärtigen, wenn wir mit einer Handlung beginnen oder uns
willkürlich zwischen mehreren Alternativen entscheiden, wenn wir unseren Willen
durchsetzen oder mit einem Problem ringen, dann ist Bewusstsein aktiv und
anstrengend.“ (5)
Dass Wahrnehmungsprozesse
und Entscheidungsprozesse eben Prozesse sind und eine gewisse Zeit benötigen,
ist kein Grund, dem Menschen einen freien Willen abzusprechen. Ich habe mich
spontan entschieden und diese Entscheidung wird mir in ca. 250 Millisekunden
bewusst. Wenn Bewusstsein (einschließlich der freie Willen) mit neuronalen
Prozessen im Gehirn verbunden ist, dann hat der freie Wille sein materielles
Korrelat, wie andererseits die Gehirnaktivität ab einer bestimmten Stärke zu
Bewusstsein führt (z.B. verursacht durch unwillkürliche Berührung). Wie das
Verhältnis von konkreten Gedanken und seinem neuronalen Korrelat ist,
das ist bisher etwas völlig Unerforschtes und evtl. auch gar nicht erforschbar,
vor allem wenn man bedenkt, dass ein Gedanke mit verschiedenen neuronalen Zuständen
korrelieren kann. (6)
Außerdem ist der
Philosophie schon längst bekannt: Völlig willkürliche Entscheidungen werden
am ehesten durch körperliche Impulse oder frühere Erfahrungen oder Unbewusstes
bestimmt, der „freie Wille“, wie er in der Philosophie bestimmt ist, ist
durch die Vernunft geprägt und nicht durch die mehr körperliche Spontaneität
beim Fingerheben. Hebe ich z.B. meinen Finger auf rational geplante Weise, z.B.
die ersten drei Mal den rechten und die weiteren fünf Mal den linken Finger,
dann betätige ich auch mein Vermögen des feien Willens, ohne dass neuronale
Aktivitäten vor sich gehen wie beim spontanen Fingerheben – sondern eben
andere, die mit dem Denken korrelieren. Der Entscheidung des freien Willens in
dieser Bedeutung gehen Überlegungen voraus, deren Endresultat erst der
eigentliche Entschluss zur Tat ist. Was bei Libet gemessen wurde, ist eine unter
vielen Möglichkeiten willentlicher Entscheidungen.
Nur
wenn man unterstellt, dass es kein Ich, kein Selbst, kein immaterielles
Bewusstsein gibt, kann man sagen, die Hirnzellen treffen die Entscheidungen für
uns selbst. Die Schlussfolgerung von Libet u.a. ist zirkulär, weil sie das
zu Beweisende bereits in der Prämisse ihres Schlusses voraussetzen. Könnte es
nicht auch sein, dass der menschliche Geist oder der freie Wille, der immer als
immateriell, als Aspekt der Vernunft gedacht wurde, den Erregungszustand des
Gehirns erst in die eine oder andere Richtung auslöst. Im übrigen beruht der
freie Wille, insofern er nicht nur ein sinnliches Begehren ist, auf vorgängigen
Erfahrungen, Einsichten und Wissen und ebenso auf Vernunft, die eben auch körperlich
im Gehirn verankert sein muss, wenn wir uns ihrer erinnern. Das Verhältnis von
Körper und Geist (Immaterielles) ist derart komplex, dass eine Deutung des
Libet-Experiments, die den Menschen den freien Willen abspricht, eine
monokausale Reduktion ist und damit falsch. Nur wenn man das Vorurteil, es gäbe
keinen Geist, kein Immaterielles als Prämisse in die Deutung einbringt, scheint
die Schussfolgerung aufzugehen. Für die seriöse Neurophysiologie ist in
der Gegenwart das Gehirn-Bewusstsein-Problem aber bestenfalls hypothetisch
deutbar. (7)
Von einer argumentierenden
Philosophie ausgehend stellt sich die Frage nach dem freien Willen ganz anders
dar, als in der noch unsicheren Wissenschaft der Neurophysiologie. Der freie
Wille ist nach Hegel die Übertragung eines Gedankens in die Wirklichkeit durch
unser Tun. Und der freie Wille hat die Fähigkeit zwischen Alternativen zu wählen.
(Die Unterscheidung von bloß sinnlichem Begehrungsvermögen und freien Willen
bei Kant, die Hegel relativiert, ist ein Thema für sich, das hier nicht von
Interesse ist.) Sind Handlungen materielle Vorgänge, so ist der Wille ein Vermögen
unseres Denkens, also etwas Immaterielles, das aber auf materielle Dinge,
unseren Körper und seine Gegenstände wirkt. Dass dieser Übergang auch ein
immer erneuter Anstoß zum Nachdenken war, soll hier nicht verschwiegen werden.
Aber den freien Willen abzustreiten, ist nicht möglich.
Einen Satz im europäischen
Sprachraum zu formulieren, bedarf es der Verbindung von grammatischen Subjekt
und Prädikat. Diese Verbindung, die beide synthetisiert zu einem neuen
Gedanken, der nicht vorher schon in den einzelnen Begriffen enthalten war, lässt
sich nicht in der Natur vorfinden, auch nicht in den Vorgängen des Gehirns, sie
ist nur vorstellbar als kreativer Akt des Bewusstseins, der ohne das Vermögen
des freien Willens nicht denkbar ist. Gewiss kann das Gehirn bestimmte
wiederkehrende Gedanken routinieren, so dass wir sie ohne grgrößere
Gehirnaktivität reproduzieren können, aber schon die Entscheidung, Gedanken zu
reproduzieren, hat wieder den freien Willen zur Voraussetzung. Der freie Wille lässt
sich zwar nicht direkt beweisen, denn dann hinge er von Prämissen ab, wäre
also begründet oder bedingt und dadurch eben nicht frei. Wohl aber lässt sich
der freie Wille indirekt begründen durch einen apagogischen Beweis.
Vorausgesetzt ist, das Wahrheit gedacht wird als Übereinstimmung von Begriff
und Gegenstand. Der Satz: „Es gibt keinen freien Willen“, wird von Singer
und anderen als wahr behauptet. Um diese Wahrheit zu erkennen, muss das
Bewusstsein diesen Satz mit seinem Gegenstand, dem Vermögen des freien Willens
im Bewusstsein vergleichen und entscheiden, ob im Bewusstsein solch ein Vermögen
vorkommt oder nicht. Diese Überprüfung von Aussage und Gegenstand (Vermögen
des freien Willens) ist aber bereits die Betätigung des freien Willens. Denn
ohne diesen könnte ich nicht aus der quasi unendlichen Mannigfaltigkeit von
Bewusstseinszuständen die obige Aussage mit dem Ausgesagten vergleichen bzw.
dieses Ausgesagte als vorhanden oder nicht annehmen. Unabhängig davon, ob ich
einen freien Willen empirisch nachweisen kann oder nicht, ist der freie Wille in
der Untersuchung dieses Problems immer schon vorausgesetzt. Die Überprüfung
dieser Aussage ist bereits die Betätigung des freien Willens. Also muss der freie
Wille als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Aussagen, die ich als wahr
behaupte, angenommen werden.
Argumentiert man als
Hirnforscher noch radikaler und sagt, das Bewusstsein des Menschen kann überhaupt
keine wahren Aussagen machen, dann unterstellt man in dieser Variante ein völlig
vom Gehirn determiniertes Bewusstsein (wie es das obige Zitat von Susan
Blackmore andeutet (4)). Ein solches Bewusstsein hätte keinerlei Freiheit in
sich, seine Aussagen zu falsifizieren oder zu verifizieren, es könnte also
auch gar keine Aussage über die Determiniertheit des Bewusstseins
machen. Der Mensch wäre – wie schon Aristoteles wusste - wieder
auf dem Niveau einer Pflanze angelangt, d.h. er könnte gar keine Aussagen
machen, oder mit Hegel gesprochen könnte er nur noch grunzen wie die Affen bzw.
seine Aussagen wären nur grunzen. Man kann also dem zustimmen, was schon Kant
über den Hirnforscher gesagt hat, er kann den Naturursachen des Bewusstseins
nachgrübeln, „worauf z.B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann
über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die
erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und
her (nach dem Cartesius) vernünfteln, muß aber dabei
gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei,
und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht
kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht
(...).“ (8)
Da die Hirnforscher
inzwischen einiges über die „Gehirnnerven und Fasern“ herausgefunden haben,
bilden sie sich ein, damit auch konkrete Gedanken und das rationale Bewusstsein
zu erklären oder doch in Zukunft erklären zu können. Das aber ist unmöglich,
eine prinzipielle Schranke dieser Wissenschaft, die nicht überspringbar ist.
Bestenfalls kann die Hirnforschung zur Heilung von Krankheiten beitragen, helfen
besser Lernprozesse zu organisieren oder das Problem Geist-Materie von der
Gehirnseite einer Lösung näher bringen, aber nur, wenn sie sich der Grenzen
ihres Gegenstandes bewusst bleibt und sich nicht als neue Universalwissenschaft
aufspielt. So wie die Logik es nicht mit dem zu tun hat, wie wir wirklich
(empirisch) denken, sondern wie wir denken sollen, damit unsere Gedanken wahr
sind, so geht wissenschaftliches Denken auf allgemeine Gegenstände unabhängig
von den zugrunde liegenden Gehirnaktivitäten, auch wenn beim Menschen überhaupt
solche vorausgesetzt sein müssen. Die naturwissenschaftliche (man muss wohl
sagen empiristische) Illusion, auch noch den freien Willen als determiniert zu
erweisen, ist lediglich logischer Blödsinn.
Wenn sich so offensichtlich
die philosophischen Überhöhungen der Gehirnforschung widerlegen lassen und der
freie Wille eine notwendige Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Tätigkeit,
also auch die der Gehirnforscher ist, die ihn bestreiten, dann muss auf die
gesellschaftlichen Gründe für die falschen Thesen einiger Hirnforscher, die in
populäre Zeitschriften eingehen, reflektiert werden. Die soziale Funktion
dieser Art Hirnforschung kann man bei den schon erwähnte Wolf Singer studieren.
Der freie Wille ist für
ihn nur eine, wenn auch wirkmächtige Illusion. „Beim freien Willen ist es
doch so, dass wohl fast alle Menschen unseres Kulturkreises die Erfahrung
teilen, wir hätten ihn. Solcher Konsens gilt im Allgemeinen als hinreichend,
einen Sachverhalt als zutreffend zu beurteilen. Genauso zutreffend ist aber die
konsensfähige Feststellung der Neurobiologen, dass alle Prozesse im Gehirn
deterministisch sind und Ursache für die je folgende Handlung der unmittelbar
vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es darüber hinaus noch Einflüsse
des Zufalls gibt, etwa durch thermisches Rauschen, dann wird die je folgende
Handlung etwas unbestimmter, aber dadurch noch nicht dem ‚freien Willen’
unterworfen.“ (9) Aus
dieser deterministischen These ergibt sich für Singer ein „neues
Menschenbild“, in dem wir scheinhuman „ein wenig toleranter“ werden, z.B.
mit Straftätern, die zwanghaft morden. „Ich muss den Betreffenden also zunächst
einmal daran hindern, dass er seine Tat wiederholen kann und zweitens versuchen,
ihn durch erzieherische Maßnahmen, durch Verhaltensbeeinflussung, zum Besseren
hin zu bewegen. Ich muss daran arbeiten, diejenigen Attraktoren in seinem Gehirn
zu stärken, die die fragliche Tötungsschwelle höher setzen würden. Wir würden
Straftäter also wegsperren und bestimmten Erziehungsprogrammen (an anderer
Stelle spricht er von „therapeutischen“ Programmen, Erin.) unterwerfen, die
durchaus auch Sanktionen einschließen würden.“ (10) Da dieser Gedanke aus einer neuen „Betrachtungsweise“
resultiert, kann man das Beispiel auch weniger dramatisch auswählen. Jeder, der
Gesetze oder Regeln bricht, muss „erzieherischen Maßnahmen“ unterworfen
werden. Er wird nicht als freier Mensch angesehen, der vielleicht rationale Gründe
für sein abweichendes Verhalten hat, sondern als Objekt von Erziehungsmaßnahmen.
Es wird ihm also das abgesprochen, was sein Menschsein ausmacht. Er wird quasi
zum Kranken oder zum ungezogenen Hund, der durch Belohnung und Strafe zum
gehorsamen Hund erzogen werden soll. Nur dass seine Erzieher auch nur unmündige,
subjektlose Erzieher sind, die blinden Mächten folgen, die ihnen das
Erziehungsprogramm eingeben. „Die Annahme zum Beispiel, wir seien voll
verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen
können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Neuronale Prozesse
sind deterministisch. Gibt man der nichtsprachlichen Hirnhälfte einen Befehl, führt
die Person diesen aus, ohne sich der Verursachung bewusst zu werden. Fragt man
nach dem Grund für die Aktion, erhält man eine vernünftige Begründung, die
aber mit der eigentlichen Ursache nichts zu tun hat. Wir handeln und
identifizieren die vermeintlichen Gründe jeweils nachträglich.“ (11)
Wer dann in der Gesellschaft mit ihren Regeln und Erziehungsmaßnahmen
bestimmt, sind die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die ökonomischen
Bedingungen. Wer sich diesen nicht unterordnet ist krank. Das, was die
kapitalistische Gesellschaft aus den Menschen zu machen versucht, früher einmal
kritisiert mit Begriffen wie psychische Verelendung, Entfremdung, Verdinglichung
und Verblendung, wird von diesem Hirnforscher noch einmal nachträglich
„naturwissenschaftlich“ legitimiert. Diese Art „Hirnforschung“
erweist sich als klassische Ideologie, ein falsches Bewusstsein zur
Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse.
Dass es auch explizit gegen
gesellschaftliche Alternativen, die das kapitalistische System negieren, geht,
zeigen die üblichen Floskeln gegen Veränderer. Wenn es keinen freien Willen gäbe,
gälte: „Auch würden all jene unglaubwürdig werden, die vorgeben, sie wüssten,
wie das Heil zu finden ist. Den mächtigen (!) Vereinfachern würde niemand
folgen wollen.“ (12) Mit solchen
„konsensfähigen“ Pseudothesen will Singer und Konsorten sogar noch die Möglichkeit
des Gedankens an eine gesellschaftliche Veränderung undenkbar machen. Das
Bewusstsein soll im Bestehenden, das hermetisch geschlossen erscheint, verharren
wie die Tiere im Stall, bis sie zur Schlachtbank getrieben werden. Die Medien
der kapitalistischen Gesellschaft greifen solches Gewäsch begierig auf und
verstärkt das Quaken dieser „Forscher“ zum ubiquitären Gedröhne.
Für seine Verdienste
wurde Singer mit dem „Communicator-Preis“, der mit 50 000 Euro
dotiert war, belohnt. Fragte man ihn, ob er diesen verdient habe, würde er
wahrscheinlich antworten, dass aus ihm nur die gesellschaftlichen Bedingungen
sprächen.
(1)
Spiegel-Dossier: „Gibt es einen freien Willen.“
„Wunder Gehirn. Die Geburt des Ich“, Spiegel vom 1.11.2003, zitiert nach www.spiegel.de.
(2)
A.a.O.
(3)
Edelmann, Gerald M.,
Tononi, Giulio: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht, München
2004, S. 99.
(4)
Spiegel-Dossier, a. a. O.
(5)
Edelmann und Tononi,
a. a. O., S. 37
(6)
Vgl. Edelmann u.
Tononi: A.a.O., S. 135.
(7)
Im
ganzen Buch von Edelmann und Tononi wird ständig von Hypothesen, begründeten
Vermutungen usw. gesprochen!
(8)
Kant: Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, in: Werke Bd. 10. Schriften zur Anthropologie,
Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Zweiter Teil, Darmstadt 1975, S.
399.
(9)
Singer, Wolf: Ein
neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Ffm. 2003, S. 32 f.
(10)
A.a.O., S. 34.
(11)
A.a.O., S. 20.
(12) Spiegel-Dossier: “Unser Wille kann nicht frei sein“, in Spiegel special 4/2003.